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Gefahr, das Staunen als Einstieg in   unwiderstehlicher Überzeugungs-    ches. Er schildert darin die Schlüs-
        die Schwärmerei zu gebrauchen.      kraft zu verfassen.“                 selerfahrung der Hauptfigur in
        Schwärmer suchen ihre Anhänger,     Für dieses Kapitel passend, wie      Jean-Paul  Sartres   bekanntem
        indem sie diese zum Staunen brin-   Staunen verführen kann, versuchte    Roman „Der Ekel“, als dieser ei-
        gen, sie wollen sie mit der gewon-  der Überbringer all der „Wunder-     nen glitschigen Kieselstein in den
        nenen  Begeisterung  „blenden“.     lichkeiten“, der Zigeuner Melchía-   Fingern hält und in sich zunächst
        Ein  Medium  im  okkulten  Zirkel   des, ihm immer wieder die Fehl-      Angst wahrnimmt und dieses Ge-
        oder im Spiritismus lässt über sein   einschätzungen auszureden. Ohne    fühl später als eine Art Ekel be-
        telepathisches  Vermögen  staunen   Erfolg.                              greift.
        und findet dadurch Kunden und
        Anhänger.                               Staunen und „Von der Ent-        Er hatte den Kiesel in die Hand
                                            täuschung getäuscht“                 genommen, um ihn, wie ein paar
        Diese Schattenseiten des Staunens                                        Jungen, übers  Wasser hüpfen zu
        beschreibt der südamerikanische     Die anfängliche Geschichte vom       lassen - eine klassische Staunsitu-
        Literaturnobelpreisträger Gabriel   schwebenden Magier führt uns         ation.  Wer kennt das nicht, zu-
        Marquez auf den ersten Seiten sei-  zwar zum Staunen, aber verwurzelt    nächst das Staunen, dass ein Stein
        nes Meisterwerks „Hundert Jahre     nicht im Geheimnis, im Gegenteil,    „so etwas tut“, nicht einfach so-
        Einsamkeit“. Dort fällt in das ver-  sie besitzt das Potenzial, uns zu ent-  fort untergeht. Unerklärbar, man
        steckte Dorf Macondo gelegent-      wurzeln.                             staunt. Und dann noch das Stau-
        lich eine Gruppe Zigeuner ein und   Ist sie nicht eine Täuschung wie al-  nen, dass einem das selbst glückt.
        bringt die Dorfbewohner mit für     les im Leben?                        Aber  Sartres  Hauptfigur schleu-
        uns alltäglichen Errungenschaften   Was uns staunen lässt, führt doch    dert den Kiesel nicht, sondern
        der  Neuzeit  zum  Staunen.  Mag-   irgendwann  zur  Ent-Täuschung,      bleibt an ihm und seinem Gefühl
        nete, Lupen, Fernrohr, ein Gebiss,   enträtselt sich, ernüchtert uns, so   hängen.
        lassen eine der Hauptfiguren, José   könnten wir denken. Staunen,        (So nebenbei: Etwas gewagt be-
        Arcadio Buendia, immer wieder       nein, danke!                         hauptet, und es ist ja nur ein Ro-
        völlig außer sich ins Schwärmen,    Der Weg ist dann nicht mehr weit,    man, hätte Sartre ihn erfolgreich
        Phantasieren und Experimentieren    überzeugt zu sein, dass doch alles   schleudern lassen, wäre das Ekel-
        geraten.                            Lug und Trug sei. Das Geheimnis      gefühl vielleicht ausgeblieben,
                                            löst sich ins Nichts auf. Oder wir   mit all den Auswirkungen auf
        „An einem glutheißen Mittag         flüchten uns in Sensationssucht      die Geistesgeschichte der zweiten
        führten sie mit ihrer Riesenlupe    oder in den Ekel vor dem Leben.      Hälfte des 20. Jahrhunderts.)
        ein überwältigendes Experiment      Das muss nicht so sein, ja, ist selbst
        vor: Sie legten einen Haufen dürres   eine Täuschung.                    Dummheit, Sünde, Schwärmerei,
        Laub auf die Straße und zündeten    Ich verstehe, dass nach einer Ent-   getäuschte Ent-Täuschungen, ja,
        es an, indem sie die gebündelten    Täuschung im Leben zur nächsten,     das sind mögliche Folgen eines
        Sonnenstrahlen darauf richteten.    mit und ohne Staunen, und das        Staunens, wenn dieses nicht als
        José Arcadio Buendia, … kam auf     häufiger, ich nicht mehr enttäuscht   Türöffner ergriffen wird, zurück-
        den Einfall, diese Erfindung als    werden will, und ich mich sogar      zufinden zum Kindsein als ein
        Kriegswaffe zu verwenden…           nicht mehr auf potenzielle „Täu-     Erwachsener, Anfänger im  Ver-
        In der Absicht, die Wirkung der     schungen“ einlassen will, auf alles,   stehen und mit Offenheit, Unbe-
        Lupe  auf  feindliche  Truppen  zu   was nach Staunen, Sinn, Geheim-     kanntes zu entdecken.
        beweisen, setzte er sich selber den   nis oder nach Gott schmeckt.
        gebündelten Sonnenstrahlen aus      Abgeklärtes, ernüchtertes, entzau-
        und erlitt Verbrennungen, die zu    bertes Staunen, ohne Erwartung
        Geschwüren wurden und lange         und Offenheit.
        nicht heilten… Lange Stunden
        verbrachte er in seinem Zimmer      „Staunen als Faszination des Ekels“
        und stellte Berechnungen über die   so überschreibt Ekkehard Martens
        strategischen Möglichkeiten seiner   (Martens, Ekkehard (2003): Vom
        neuartigen Waffen an, bis es ihm    Staunen oder Die Rückkehr der
        gelang, ein Handbuch von verblüf-   Neugier, Reclam: Leipzig , S.106-
        fender didaktischer Klarheit und    119) ein Kapitel seines Staunbu-



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